Mittwoch, 2. November 2016

Zu lässig mit Fräulein Trulla?

Vor einiger Zeit hörte ich, dass jemand über mich sagt, ich sei zu lässig im Umgang mit Fräulein Trulla. Zu wenig ernst. Für diesen Menschen bedeutete das wohl, ich nehme das Fräulein Trulla und das Leben mit ihr nicht ernst genug.

Tue ich das?

Wer mich kennt, der weiß, dass dem nicht der Fall ist. Mir ist schon klar, dass Multiple Sklerose ziemlich gruselig und ernst ist. Ich nehme die Erkrankung, die da unheilbar und jeder Menge gemeiner Überraschungen einhergeht, sehr wohl sehr ernst. Zumal ich auf Kongressen wie z. B. der ECTRIMS usw. mit den nackten Zahlen, Daten, Fakten und Einflüssen auf Patienten deutlichst konfrontiert werde, oft mehr als "normale" Patienten. Nicht nett. Und oft nur schwer zu verdauen. Aber für mich auch nötig, um z. B. Aktivitäten als Patient Advocate, den Job oder Recherche für Machbarkeitsstudien machen zu können.

Und was ist eigentlich "ernst nehmen"? Ansichtssache oder hat es eine Definition?

Lässt man dieses "ernst nehmen" durch Google kommt einem eine Menge unter. Man kann etwas seriös betrachten, nimmt man es ernst, manchmal nimmt man etwas zu ernst und nimmt es sich dann auch noch zu sehr zu Herzen und derlei. Was mich auf den Punkt bringt, ich nehme MS sehr wohl ernst, ich betrachte es (meistens) sachlich und mache mir meine Gedanken.

Aber ist das Leben mit MS? Getragen und nachdenklich durch das Leben schreitend und seriös mit ernstem Blicke (und der ein oder anderen Gramfalte und in grauem Gewande, sorry, Kopfkino) als Patient mit MS in der Hauptrolle das Leben zu ertragen? Oder andererseits an der Seriosität ernsthaft zu verzweifeln und als Patient in der Sofaritze zu versinken und zu warten. Ernsthaft. Auf was denn?

Wäre ich andererseits der Patient, den sich so mancher in meiner Umgebung als Traumpatient vorstellt, wäre ich wahrscheinlich wirklich ein Bündel voller Selbstmitleid, das vergessen hat, was Leben ist. Still und leise säße ich da und würde alle über mich ergehen lassen. Wäre einsam, isoliert und in Gedanken oft genug fern dieser Welt. Ist das Leben? Für mich nicht.

Das erdrückt mich und mir drängt sich die Frage auf, während ich hier mal einfach nur vor mich hin philosophiere, ernsthaft betrachte und auch nicht: Was ist Leben? Und vor allem: Was ist Leben mit MS?

Und weiter: Ist es ein Stigma ein Patient zu sein? Muss man dann in eine Rolle schlüpfen, die keinen Spaß erlaubt? Ist Lachen als Patient neuerdings verboten? Ab und an habe ich das Gefühl. Dabei sind wir, anders betrachtet alle Patienten. Irgendwann. Mehr oder weniger erwischt es jeden einmal. Keiner entkommt diesem ernsten Schicksal. Glaubt es mir! ;-)

Also: wir alle wissen, dass wir mit einer Erkrankung konfrontiert sind, die im Moment nicht heilbar ist. Eine Erkrankung, von der wir selten wissen, was morgen sein kann oder wird. Ich kenne meine Zukunft nicht, das ist die Wahrheit. Aber das tun andere auch nicht. Hätte ich keine MS, fiele mir vielleicht morgen ein Dachziegel auf dem Kopf oder ich hätte einen Unfall ....

Und schon gar keiner kann mir garantieren, dass ich übermorgen nicht vielleicht im Rolli sitze. Ich bin informiert darüber, dass mein Hirn schneller als bei anderen Menschen (denen ohne MS) schrumpft und dass ich es regelmäßig trainieren muss. Ich bin informiert darüber, dass mir jederzeit was passieren kann, dass ich ein Risiko für Lebensversicherungsgesellschaften und auch für viele andere bin. Ja, es kann nach dem schubförmigen Verlauf gruselig werden, ich bin voll in diesem Zeitrahmen, in dem sich mein schubförmiger Verlauf in einen  progressiven verwandeln kann, also nicht mehr wirklich eine Besserung eintritt. Mir ist klar, dass Forschung und Entwicklung daran arbeiten um herauszufinden, woher ich die MS habe. Gene? Umwelt? Ernährung? Viele Theorien, viele Ansätze aber bisher? Konkret ist halt nix. Nur gruselig. Und sehr, sehr ernst.

Mir ist mehr als klar, dass die MS eine schraurig gruselige Sache ist, aber ich habe irgendwann, und das ziemlich schnell kapiert, dass ich zwei Möglichkeiten habe, mit MS zu leben.
Die getragene Rolle der wirklich superkranken Patientin oder die der Frau, die mit MS lebt, ihr aber im Höchstfall eine Nebenrolle zugesteht.
Eine Frau, die dennoch zufrieden ist, Spaß im Leben hat, ab und an die Menschheit gepflegt in Ihrwißtschonwohin tritt und das Fräulein Trulla deshalb hat, damit ihr Kopfkino sich dann mörderisch genüsslich austoben kann, wenns grad mal wieder zuviel ist.

MS ernst zu nehmen heißt nicht, sich in eine Rolle ergehen, die man nicht ausfüllt oder die einem nicht steht oder die nicht wirklich gut tut. Krank werden mit Krankheit? Seelisch? Nö.

Die MS darf und soll uns nicht ausmachen, das hat mir die wunderbare Lori Schneider in einem Interview gesagt. "Egal ob ich im Rolli sitze oder nicht, ich bin immer noch ich", sagte sie in diesem Frühling in Oslo zu mir als ich sie interviewt habe. Sie bestieg übrigens als erste Person mit MS den Mount Everest und ist mein heimlicher Star. :-)

Picture Lori Schneider at the Everest / Copyright by Lori Schneider! 

Hier geht es zum Interview: Interview mit Lori Schneider!

Also, MS ernst nehmen ja, auf jeden Fall, die Erkrankung muss man kennen und wissen, was man tun kann oder soll oder welche Fragen für einen wichtig sind. Informiert sein ist wichtig.

Aber: Genießt, habt Spaß, jeder hat das Recht dazu. Und wir noch viel mehr. Gebt Euch die Erlaubnis Dinge zu tun, die gut tun, die ihr tun wollt. "Ich gab mir selbst die Erlaubnis vorwärts in meinem Leben zu gehen und die Dinge zu priorisieren!", so Lori Schneider im Video.

Sie nimmt MS ernst. Ich auch. Aber, wie wir lachend feststellten, wir nehmen auch uns und unser Leben ernst. Weil es das absolut wert ist.

Nach immer nachdenkliche Grüße
Birgit


7 Kommentare:

  1. Meine Güte, es gibt offenbar Menschen, die es einem nichtmal vergönnen, auch als chronisch kranker Mensch Spaß und Lebensfreude zu haben. Vermutlich solltest Du Dich so verhalten, daß es mitleiderregend ist und dann die gütigen Worte dankbar und demütig entgegennehmen....

    Man kann meiner Meinung nach mündig krank sein und dennoch Spaß im Alltag haben. Es gibt genug beschissene Tage. Man braucht alle Kraft, die man schöpfen kann. Und man kann dabei durchaus seine Krankheit ernst nehmen und trotzdem lachen.

    W***

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  2. Jep. Gibt es. Und ja demütige Annahme von Mitleid wärs schon. Für diese Leute. Allerdings verderben die mir den Spaß nicht. Kennst mich doch ....😂😂😂

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    1. Ich kenne Leute, die mit Mitte 30 aus heiterem Himmel und ohne "schlechte" Lebensführung nen Schlaganfall hatten. Schulfreunde sind Anfang 20 bei Unfällen ums Leben gekommen. Menschen bekommen"schuldlos" Krankheiten. Andere eben nicht. Man kann von nem Dachziegel erschlagen und von einer Straßenbahn überfahren werden. Das einzige, was von Geburt an sicher ist, ist die Tatsache, daß wir irgendwann sterben werden. Nur wann ist unklar. Es gibt aber keinen Grund bis dahin Trübsal zu blasen. Lieber genießen wir, was wir haben!
      In diesem Sinne

      W***

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  3. Sekundär progredient in dem Fall, oder? Ich bitte um Korrektur :)
    Und zum thema schrumpfendes Gehirn... gibt's da eine vertrauensvolle Quelle?

    Vielen lieben Dank und beste Grüße, weiter machen so.
    Katja

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    1. Hallo Katja, vielen Dank für deinen Kommentar. Ich würde ja gerne was korrigieren, aber es gibt folgende Verlaufsformen: Schubförmig, primär progredient und sekundär progredient. Wie sich die einzelnen Formen unterscheiden, hat Amsel e. V. hier ganz gut erklärt: http://www.amsel.de/multiple-sklerose/wasistms/verlauf . Dass das Hirn schneller schrumpft als das bei "Normalen" Menschen wird seit Jahren von Experten diskutiert, ich verfolge das über die Kongresse zur MS wie der ECTRIMS oder auch dem DGN, dazu lese ich viele Fachberichte. Bedauerlicherweise ist es aber so, dass die Tatsache der Gehirnatrophie eine ist, die nicht besonders erfreulich ist und daher auch nicht so häufig diskutiert wird, wie sie es sollte. Prof. Gavin Giovannoni aus UK forscht hier in diesem Feld , er beschreibt es hier ganz gut, ich hoffe, dass Englisch kein Problem ist. http://multiple-sclerosis-research.blogspot.com/2016/03/researchspeak-how-bad-is-your-end-organ.html oder hier: http://multiple-sclerosis-research.blogspot.com/2015/11/shiftms-brain-volume-loss-in-ms.html

      Diese Studie sprach bereits 1999 davon. http://www.epistemonikos.org/de/documents/064b4007e789b678b8d025c37ed87d176449dffe

      Auch das hier ist interessant: http://www.focus.de/auto/diverses/multiple-sklerose-bei-multipler-sklerose-ans-gehirn-denken-umfrage-zeigt-schutzmoeglichkeiten-werden-unterschaetzt-foto_id_3971730.html

      Und wenn du Hirnatrophie und Kognition durch google jagst, kommt noch mehr. Aber bitte aufpassen, nicht alle Berichte sind fundiert.

      Viele Grüße
      Birgit

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  4. Liebe Birgit,
    das hast Du ganz wunderbar geschrieben und ich fühle mich gespiegelt.
    Auch wenn ich mittlerweile den Rolli oder den Rollator nutze, hey, das Leben ist trotzdem lebenswert und ja, wir machen es uns schön, so gut es geht.
    Mit Humor und auch mit dem nötigen Respekt der Krankheit gegenüber.
    Wir leben! Wir lassen uns nicht unterkriegen und machen weiter.
    Vielen Dank für diesen tollen Beitrag.
    LG Deine Christine!

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    1. Liebe Christine, vielen Dank für deine Zeilen, ich freue mich sehr. Klar müssen wir uns das Leben schön machen. Das haben wir verdient. Ich lache sehr gerne, ich genieße gerne. Und nichts wird mich, und ich glaub ja, dich auch nicht, genau davon abhalten. :-) Alles Liebe, Birgit

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